Traumhund, Buch von Emil Keller

Keller_Traumhund_Cover

Die Zeitung legte ich von nun an immer auf die Kante des Küchentisches, Jypsy hat sie nie mehr angerührt. Neu ist, dass sie nun sogar die Liegematte aus der Schlafbox zerrt und diese analog dem Tuch dazu nutzt, sich darauf zu legen. Ich denke, dass der Geruch des Tuches sich ebenso auf die Unterlage der Matte übertragen hat und etwas ganz spezielles für sie bedeutet.
Heute waren wir beim Schutzdiensthelfer, und auch Jypsy durfte nach Beute schnappen. Das Wetter war herrlich, und wir konnten nochmals im frischen Pulverschnee üben. Morgen, Sonntag, fahren wir zum letzten Kurs zu den Prägungsspielen, und am Montag ist Jypsy bereits seit acht Wochen bei mir und mit der sechzehnten beziehungsweise siebzehnten Woche endet die Phase der Prägezeit.
Dieser Sonntag war sonnig und warm, beinahe ein Frühlingstag. Jypsy war gut drauf und benahm sich aufgekratzt, doch Frau Berlowitz persönlich überwachte die Gruppe, sodass nichts aus dem Ruder lief. Jypsy wurde mal kurz diszipliniert, kam dann leicht aus dem Konzept, erholte sich aber wieder, und so wurde das gesamte Spiel wiederum sehr ausgeglichen. Der das letzte Mal neu dazugekommene Tervueren wurde diesmal erneut zu unserer Gruppe geschickt, doch bei uns wurde er einfach ignoriert, und diese Frustration quittierte er durch ständiges Bellen. Auch ein Welpe hat es oftmals schwer, sich mit dem Leben anzufreunden, und deshalb sind auch wir hierfür zuständig und tragen eine nicht unerhebliche Mitverantwortung. Wer sich dies bewusst macht, investiert viel in diese erste Zeit und erntet dafür Harmonie und Glück im Zusammensein mit seinem zufriedenen Hund.
Viele Verhaltensmuster wurden nicht nur erneut mit Kompetenz erklärt, sondern es wurden ebenso Möglichkeiten des persönlichen Beeinflussens aufgezeigt, sodass die Hundebesitzer, die ihren Hund nun bereits besser kennen, selbst Rückschlüsse werden ziehen können. Das Temperament eines jeden Hundes kommt in so einem Rudel sehr gut zur Geltung, und ich denke, dass Jypsy eine ausgesprochene „Zigeunerin“ ist und ich mich sehr zu wappnen habe, ihr Temperament und ihre Intelligenz in die richtigen Bahnen zu lenken. Wichtig war ebenso das Erkennen, dass auch ein Spiel mit Knurren und sonstigen Geräuschen in Ordnung ist. Wenn einer anzeigt, dass er genug hat, wird er in Ruhe gelassen oder versteht sich entsprechend zu wehren. Lässt ein Hund nicht ab, wird er diszipliniert, und das finde ich richtig. Hunde sind soziale Geschöpfe und haben sich an unser Leben anzupassen.
Ich bin über diese Kurse sehr erfreut, lernen wir hier unseren Hund doch besser kennen. Es ist eine gute Schulung für Augen und Herz, denn wir lernen das richtige Beobachten. Die vielen zusätzlichen Tipps, mit welchem Verhalten wir Positives verstärken können, wie umgekehrt falsches Handeln das Negative verstärkt, hilft die Zukunft leichter zu bewältigen.
Heute Nachmittag besuchte ich noch kurz die Hundefachmesse. Eigentlich mehr deshalb, weil ich meine Jypsy dort unter vielen Menschen und Hunden herumführen konnte. Ja, es war eine ganz besondere Gelegenheit, die Prägung mit dieser zusätzlichen Belastung zu ergänzen. Wie sie dies gemeistert hat, ohne Angst, ohne irgendein Problem war eindrücklich. Interessant war auch zu sehen, dass künstliche Hunde gleich beschnuppert werden, als wären es richtige. Sie war sehr freundlich zu allen Menschen, und selbst zu kleinen Kindern war sie zurückhaltend, freundlich und ohne irgendwelche Unsicherheiten. Sie stellte sich stets in die Erwartungshaltung, ein Futterstück zu bekommen, aber ohne aufdringliches Fordern.
Ich stellte mir aber ebenfalls vor, dass durch den Prägungskurs am Morgen Dampf abgelassen worden war, und so stand sie dem ganzen Rummel mit mehr Gelassenheit gegenüber ohne Aufmerksamkeitsverlust gegenüber ihren Artgenossen. Die Erfahrung mit so vielen gut sozialisierten Hunden war eindrucksvoll. So freue ich mich an jedem Mosaiksteinchen, das ins Seelengefüge von Jypsy eingebaut werden konnte, in der Hoffnung, diese Prägung bleibe so erhalten und trage entsprechend Früchte.
Als wir nach Hause wollten, streikte mein Auto. Das Zündschloss war defekt, und wir mussten per Taxi von Winterthur nach Zürich. Alles kein Problem mit meinen zwei Hunden. Gerade in solchen Situationen ist man froh, wenn diese sich zu benehmen wissen. Jypsy nahm ich problemlos auf den Schoss und Ojo war hinten im Kombi. Beide verhielten sich so gesittet, als wäre das Taxi unser tägliches Transportmittel.
So ging es anderntags früh eben zu Fuß auf den Hönggerberg. Das Auto, welches in der Nacht von der ACS-Pannenhilfe nach Zürich gebracht worden war, holen wir heute Nachmittag per Straßenbahn ab.
Wir machten einen größeren Spaziergang durch stark befahrene Straßen, und ich behielt beide Hunde an der Leine. Ojo links und die kleine Hexe links von Ojo nahe der Fahrbahn. Bei einem großen Brummer (LKW) wich sie etwas zurück, doch kurz danach lief sie wieder neben Ojo. So ist jede Situation immer wieder neu. An der Tramhaltestelle wurden wir von den Menschen begutachtet, aber diese waren heute nicht so freundlich, wie wenn ich nur mit Jypsy allein unterwegs war. Ojo macht schon mehr Eindruck, und so schaute ich sehr darauf, dass sie gesittet nebeneinandersaßen, das heißt, Jypsy legte sich nach kurzer Zeit einfach hin.
Heute, Dienstagmorgen, lag das Kissen vom Sofa wieder einmal im Wintergarten. Ich muss nun nicht mehr sagen, was ich mache, aber ich wiederhole die ganze Schimpftirade und traktiere das Kissen weiter, denn es kommt mir nichts Besseres in den Sinn. Möglicherweise nahm sie es erneut, weil sie, wenn ich mich auf das Sofa lege, sie sich dort auch mal ihr Plätzchen sucht. Vielleicht wäre alles einfacher, dürfte sie sich nirgends drauf begeben, aber ich lebe mit meinen Hunden, und so ist mir dies eben gleichgültig.
Trotz allem, ich habe weiterhin einen ordentlichen Verbrauch an Kartonschachteln, aber mir ist es lieber, die Pappschnipsel aufzulesen, als wenn sie an den Teppichen nagt.
Heute war es wie verhext, ich kam etwas aus dem Rhythmus, denn zuerst musste ich zum Zahnarzt und kurz danach zum Arzt. So war der Auslauf heute etwas kürzer und prompt, kaum waren wir zu Hause, um noch Unterlagen mitzunehmen, machte sie nochmals hinein. So ist das eben, wenn man meint, auch bei Hunden müssen wir nur auf das Knöpfchen drücken, und dann sei alles vorbei, doch ich weiß es ja, sie macht immer ein zweites Mal am Morgen, und nun lag das zweite Häufchen eben am falschen Ort. Aber ich bin ja selber schuld, und so lerne ich, das nächste Mal eher etwas früher aufzustehen, damit der Hund sich in Ruhe versäubern kann. Auch der später kommende sogenannte Zeitwechsel (die Umstellung von Sommer- und Winterzeit und umgekehrt) hat einen Einfluss auf die innere Uhr der Hunde, aber der lässt sich über zwei Wochen problemlos anpassen. Das zeigt auf jeden Fall, mit sechzehn Wochen und einem Tag ist man noch nicht ganz über dem Berg. Mir kommt es vor, als wäre dies mit Ojo anders gewesen, viel problemloser, doch es scheint wie zu Zeiten im Militärdienst: Man erinnert sich nur noch an die schönen Momente.
Eines weiß ich nun genau, so flink wie ein Malinois sind möglicherweise nur wenige. Kaum schneide ich mir ein Brot ab, steht sie schon auf den Hinterbeinen neben mir, drückt ihre Nasenspitze gegen meine Hände und sagt mit ihren großen Augen: Gib mal her, ich habe noch Hunger. Zwei Scheiben Brot und ein Stück Schokolade (absolutes Tabu für Hunde, da giftig und selbst in kleinen Mengen sehr belastend) dazwischen veranlassten sie sogar, mit einem Sprung über die Diwanlehne zu mir direkt auf den Bauch zu springen und meinte nun, als Erste etwas zu bekommen. Ojo ist diesbezüglich etwas gesitteter, schaut mir aber genau zu, was ich mache. Wehe, ich gebe ihr etwas, er würde mir seine Enttäuschung mit seinem Blick schon klar machen, aber das will ich nicht. Wenn schon, dann gebe ich immer ihm zuerst etwas und erst danach ihr. Die Hündin benimmt sich so raffiniert, dass man immer einen kühlen Kopf bewahren muss, um diese Regel einzuhalten. So ist es auch bei den Übungen. Mit allen Tricks versucht sie, ihr Köpfchen durchzusetzen. Manchmal frage ich mich, spielt sie stur, oder bin ich auf dem Prüfstand? Wenn ich „Fuß“ sage, sitzt sie wohl, aber hinter mir, rechts von mir, schräg vor mir usw. nur nicht bei Fuß. Bis sie am richtigen Platz ist, das dauert manchmal eine Weile, aber Konsequenz muss sein. Zum Glück habe ich keine Eile, aber wenn ich etwas sage, dann meine ich es auch so. Im Augenblick braucht das einfach viel Geduld, und wenn man den Hunden in die Augen schaut, ist man für alle Mühe immer wieder entschädigt. Die Mimik und der Augenausdruck der Hunde ist einmalig und wer sich dafür nur etwas Zeit nimmt, kann viel darin lesen, so wie auch er uns damit zu durchschauen lernt. Möglicherweise kennt uns ein Hund schnell besser, als wir uns selbst.
Alles ist heute am Ort geblieben, Kissen, Zeitungen und auch sonst alles, nur langsam geht mir der Vorrat an Pappschachteln aus. Sie hat eine Energie, die sie beim Waldspaziergang in einer Weise auslebt, dass ich aus dem Staunen nicht mehr herauskomme. Ojo an der Leine und sie um Bäume/Sträucher rasend, auch wenn sie mal hängen bleibt und sich um eine Bank so schnell bewegt, dass sie mit dem Kopf schon neben, aber mit der Hüfte noch vor ihr ist und somit sich selbst überschlägt, so springt sie trotzdem weiter, als wäre nichts geschehen. Sie stürmt über daliegende Baumstämme, hüpft von einem zum anderen, ich kann mich immer wieder nur wundern, was mein Hündchen so antreibt. Hier drin steckt einfach viel Energie, und die muss ausgelebt werden. Diese Hunde müssen gefordert und gefördert werden. So denke ich oft, schade mein Hündchen, dass ich nicht jünger und sportlicher bin, mit dir wäre viel zu erreichen.
Erneut fasste sie wieder ein Kissen, vor allem eins aus der guten Stube, und ich denke, dass es seine Zeit braucht. Ob dieses System falsch oder richtig ist, weiß ich noch nicht, auf jeden Fall gebe ich es nicht auf und versuche immer wieder, durch diese indirekte Weise meinem Hündchen klar zu machen, dass mit dem Kissen nicht gespielt wird. Zum Glück handelt es sich hier um ein robustes Exemplar, und damit ist alles nicht so schlimm.
Jetzt beginnt auch der anfängliche Gehorsam etwas nachzulassen. Oft bemerke ich, dass ich bereits zweimal gerufen habe. Nun ist es höchste Zeit, die lange Schleppleine hervor zu nehmen, denn je früher umso einfacher ist es, Befehle wirklich einzuprägen.

Auf dem Übungsplatz ließ ich es zu, dass andere sie ohne Weiteres füttern durften. Ja, da war sie Feuer und Flamme und liebte die ganze Menschheit. Danach versuchten wir das Umlaufen von zwei Verstecken. Zwei hübsche Damen waren bereit, hinter den zu umlaufenden Schutzwänden zu stehen und Jypsy darum herum zu locken. Sie war aber so gierig und gewohnt, sich noch irgendwas zu erbetteln, dass sie von diesen kaum mehr loskam. So dauerte es ein paar Umgänge, bis es klappte und dann wieder ab ins Auto. Niemand wusste, dass Jypsy noch nichts zu Fressen bekommen hatte und dass daher der Hunger so groß war, dass sie nur noch ans Fressen dachte. So weiß ich für das nächste Mal, dass ich sie besser zuvor leicht füttere, dann wird auch sie klarer im Kopf bleiben und nicht nur an den leeren Magen denken.
Heute hatte sie beinahe die Tendenz, einem Auto nachjagen zu wollen. Vielleicht sind Polizeiautos etwas attraktiver und im Wald auf jeden Fall etwas Spezielles. Zum Glück gehorchte sie auf „Kehren“ und kam noch rechtzeitig zurück. Bei Pferden möchte sie ebenso gerne hinterher schnuppern, und auch hier behielt ich sie stets im Sitz und fütterte sie, um attraktiver als Pferde zu sein. Ein vorbeiradelnder Fahrradfahrer mit angebundenem Hund war dann beinahe die oberste Grenze und nur mit sehr lautem Befehl blieb sie wenigstens stehen. Nach einiger Zeit äugte sie zu mir zurück, und wie sie meine Futterhand sah, ja, da war ich wieder einmal der Beste. Auch all diese Übungen brauchen noch eine lange Zeit, bis ich mich auf den Hund absolut verlassen kann. Jogger kennt sie, und auch bei Spaziergängern bleibt sie bereits passiv, sofern diese sie nicht ansprechen.
Ihr Vertrauen zu mir ist stabil und dies ist bei diesem Hund nicht selbstverständlich, denn ein/zweimal disziplinieren und schon würde sie die Flucht wählen, denn Malinois sind im Grunde als Welpen schneller zu beeindrucken als ein Deutscher Schäfer, denn dieser verzeiht kleine Erziehungsfehler eher. So freue ich mich bis heute über ihr Vertrauen und gebe mir Mühe, für sie weiterhin verständlich zu bleiben. Dies heißt aber in keinem Fall, man könne robustere oder weniger sensible Hunde generell einfacher korrigieren, nein, gerade während der Prägungszeit ist das gegenseitige Vertrauen das Wichtigste, es ist die Basis der gesunden Entwicklung des Hundes und daher würde ich es in Zukunft mit jedem Hund gleich tun. Wenn ein Hund etwas besser wegsteckt als der andere, heißt das nicht, dass grobes Verhalten keine negativen Auswirkungen nach sich zieht, nein, wir wissen später einfach nicht, was wir im Grunde an Einmaligkeit verloren haben. Wenn das gegenseitige Vertrauen einmal beschädigt ist, wird auch die Kommunikation schwieriger.
Wenn ich zusehen muss, was sie alles gierig in sich hineinstopft, das mich ekelt (am liebsten würde ich sie dafür strafen), und sie aber trotz hartem Befehl zu mir kommt, so belohne ich sie mit spitzen Fingern, danach aber freue ich mich, dass ich gelassen bleiben konnte. So schaut sie dann mit ihren Unschuldsaugen triumphierend zu mir auf, und gerade dies macht vieles vergessen. Kein Hund macht etwas zum Trotz, sondern er folgt seinen Naturbedürfnissen, und so zerbrechen oftmals Bindungen nur wegen einer differenzierten Sichtweise von Mensch und Hund. Wir sehen es von unserer Seite, der Hund aus seiner Sicht und das führt dann am Ende zu Konflikten, die wir gerade in solchen Momenten tolerieren lernen müssen. Wenn wir auch diesen Übergang schaffen, haben wir das an der Leine, was man als Edelstein im wahrsten Sinne des Wortes bezeichnet. Es gibt überall auf der Welt „verlockende“ Stellen für den Hund, und wenn wir diese kennen, unsere Hunde dort an der Leine führen, können wir vieles vermeiden, was uns unangenehm ist (Waldränder, aufgeschichtetes Holz, dichtes Gebüsch auf viel begangenen Wanderwegen usw.). Die Erkenntnis aus diesen Begebenheiten ist, dass wir sehen, was unsere Gesellschaft so einfach alles in der Natur gedankenlos wegwirft respektive hinterlässt.
Gestern übten wir Schutzdienst mit Ojo und das Beutespiel mit Jypsy. Die Beute ist für Jypsy bereits so wichtig, dass sie diese voller Stolz nach erfolgreichem Fassen im Fang trägt und selbst zum „Pipi“-machen nicht loslässt. Ja, sie versucht sogar eine Zusatzschlaufe bis zum Auto dazuzulegen, damit sie ihren erfolgreichen Besitz möglichst lange auskosten kann. Sobald sie die Beute fallen lässt, zupfe ich sie weg und fort ist sie. So freut sie sich auf das nächste Mal.
Heute früh, nach dem Frühstück, brachte sie mir das Kissen vom Sofa. Sie legte es neben mich, wartete einen Augenblick und ich tat so, als bemerkte ich nichts. So ging sie von dannen ohne mein „übliches“ Spektakel. Etwas später nahm ich das Kissen, legte es wortlos an seinen Platz und damit hatte es sich. Vielleicht fand sie mein Verhalten bei den früheren Fällen lustig und nun, wo ich nicht reagierte und sie es nicht nur einfach nahm, sondern mir ins Büro brachte, erlosch nun möglicherweise ihr Interesse? Wer weiß, was in einem Hund so vorgeht. Nun liegt sie nach dem ausgiebigen morgendlichen Spaziergang im Wintergarten, eine angeknabberte Pappschachtel neben sich und döst mit Ojo vor sich hin. Es war herrlich, bei stürmischen Wetter herumzutoben, und beide Hunde waren entsprechend verschmutzt. In der Garage wurden sie mit Wasser abgespritzt und mit einem Tuch getrocknet. Sie lieben das Duschen nicht so besonders, aber jetzt verläuft alles wieder in harmonischen Bahnen, und wir freuen uns auf die wunderbare Mittagspause.
Vorgestern gab ich, als wir vom letzten Spaziergang nach Hause kamen, der Jypsy und Ojo ein getrocknetes Kalbsohr. Ojo frisst dies bedeutend schneller als Jypsy, und so ergab sich für Ojo die Möglichkeit, Jypsy das halb gefressene Ohr streitig zu machen. Er bluffte durch einen Scheinangriff, sie wollte reagieren, und es schien, als würde Jypsy von ihm aufgefressen, doch Ojo mit seiner überlegenen Stärke und Größe trug es einfach weg. So mischte ich mich ein und entnahm ihm das schmackhafte Stück und gab es ihr wieder. Heute Abend blieb sie immer in meine Nähe, als ich die Kalbsohren verteilte und wie Ojo aufschaute und sie ansah, rückte sie nochmals ein kleines Stück näher zu mir. Mir kam in den Sinn, dass in der Welpenschule auch geübt wurde, das Fressen wegzunehmen oder direkt in die Schüssel zu greifen. Ich bückte mich zu Jypsy, wollte das gute Stück daraus entnehmen und schon schoss sie mit einem eindeutigen Knurren auf meine Hand zu, ihr Fressen verteidigend. Ich packte sie und langte beherzt zu und so, wie sie mich angeschaut hat, erwartete ich einen Angriff auf meine Finger. Doch das gesprochene „Aus“ und der sichere Griff hielten sie davon ab. Ich legte sie an meinen Körper und hielt sie fest und wartete, bis sie beruhigt war, löste nun den Griff langsam und ging über zu Lob und streichelte sie, dann gab ich ihr die Futterschüssel mit dem Ohr wieder. Sie floh mit dem Ohr aus dem Zimmer, kehrte aber nach kurzer Zeit wieder zu uns zurück und nagte zufrieden in nächster Nähe von Ojo weiter. Nun weiß ich, dass bei ihr Knochen und Futter nicht dasselbe sind, und solche Übungen werde ich wiederholen. Ich habe danach noch zwei Mal einen Knochen aus ihrem Fang genommen, aber nach dem zweiten Mal wurde es ihr zu blöd, und sie verzog sich in den Wintergarten. Mit dieser sporadischen Übung erfährt man viel über die Entwicklung des Welpen, und Jypsy verträgt beim „Knochen hergeben“ keinen Spaß. Hätte ich wohl gezögert und ihr den Knochen überlassen, wäre sie gestärkt aus diesem „Machtkampf“ hervorgegangen, doch dies könnte sich später zum Problem auswachsen, indem sie um jede Beute zu kämpfen versuchte, anstatt durch ein „Aus“-Befehl diesen an mich zu übergeben.
Beim letzten Spaziergang abends durch den Wald nutzte ich die lange Schleppleine (20 m) und testete, ob sie für Jypsy hinderlich ist oder nicht. Ihre Selbstständigkeit und ihr Freiheitstrieb sind nun schon so groß, dass Worte nicht mehr garantiert wirken. So kann ich mit der langen Leine auch aus gewisser Distanz meinen Einfluss geltend machen. Alles klappte gut, und so wird diese in nächster Zeit wohl zur Standardausrüstung gehören. Schon eine Weile hat sie die Kissen nicht mehr angerührt und auch andere Gegenstände nicht. Nun schläft sie neben Ojo, und bald ist Lichterlöschen für alle.
Ja heute, am letzten Tag der achtzehnten Woche, spazierte ich mit der langen Schleppleine, welche auch durch mitspielende Hunde nicht den geringsten Einfluss auf Jypsys Bewegungsfreiheit hat. Als ich sie zurückrief und sie nicht sogleich reagierte, erfuhr sie durch einen Schritt auf die Leine „Aha, ich muss sofort zurück“, und sie kam mit viel Freude und dem Bewusstsein, dass mein Arm viel weiter reichte, wie sie wohl dachte.
Zu Hause bekamen meine Hunde erneut ein Kalbsohr, und ich testete ihr Verhalten. Jypsy wollte sogar zu mir aufs Sofa kommen, um vor Ojo sicher zu sein, reagierte aber nicht mehr, als ich sie um die Schnauze streichelte und ihr das Ohr mit „Aus“ wegnahm. Sie versuchte sich vorerst noch daran festzubeißen, gab es dann doch heraus und nach großem Lob steckte ich es ihr wieder in den Fang. Sogleich haute sie ab, kam aber wieder, als sich ihr Ojo näherte, und blieb doch lieber bei mir.
Und was ich noch sagen wollte: Die Behauptung, jeder Hund kann von Natur aus apportieren, möchte ich hiermit bestätigen. Als zusätzlichen Beweis führe ich den Bericht mit den gefundenen Ausweisen an, die sie mir gebracht hat! Das Geheimnis liegt in der guten Bindung und im Vertrauen zum Führer. Nähme ich Jypsy ohne Beutetausch Dinge aus dem Fang, wäre ich für sie nicht verständlich und provozierte einen Vertrauensverlust. So geht diese Fähigkeit „den Bach hinunter“ und muss oft mühsam später wieder erarbeitet werden. Ein guter und zielgerichteter Aufbau erspart viel Arbeit und macht gleich noch mehr Spaß. Dass das korrekte Apportieren und ruhige Im-Fang-Behalten eine weitere neue Übung darstellte, erfuhr ich erst später, aber immerhin, meine Probleme waren bedeutend kleiner, als wären noch alte Konflikte damit begraben.
Seit Tagen liegt das „Nuschi“ ihrer Kindheit in der Wohnung herum und mir scheint, auch sie hat damit den Schritt vom Welpen zum jungen Hund vollzogen.
Nun ist meine Jypsy bereits fünf Monate alt. Das Kissen ist seit Wochen absolut zum Tabu geworden, Zeitungen interessieren sie auch nicht mehr, Apportieren (Kartonschnipsel, Holzstücke, Blätter usw.) macht sie mit Freude, Forderungsbellen hat sie immer noch nicht gelernt, doch das ist weiter nichts, und die Zähne hat sie nun alle gewechselt, aber positiv ist ebenso, dass es auch mir wieder gesundheitlich ein wenig besser geht.
Das „Nuschi“, das uns seit frühester Zeit begleitet hat und das sie immer wieder hervorzog, ganz speziell, wenn sie sich allein fühlte, wenn ich kurz weg musste oder ich sie mal kurz von Ojo wegsperrte, damit sie ihre Ruhe hatte, ist im Grunde vergleichbar mit dem „Nuschi“ unserer Kleinkinder, die sich damit Trost verschaffen. Am 2. März, einfach um den Tag genau zu sagen, beschloss ich, das „Nuschi“ in die Waschmaschine zu geben, holte noch einige weitere Wäschestücke aus dem Badezimmer, und wie ich auch diese Wäsche hineinlegen wollte, bemerkte ich das Fehlen des „Nuschis“. Jypsy hat es wohl in der Zwischenzeit dort geortet, aus der Wäsche herausgezupft und es wieder in den Wintergarten zurückgebracht. Noch nie hatte sie einen Gegenstand oder ein Wäschestück aus diesem Behältnis entnommen. Mich hat dies so verblüfft, dass ich es ihr weiterhin überlasse. Es erscheint mir mehr als wahrscheinlich, dass ihr dieses Tuch weitaus mehr bedeutet, als ich angenommen habe.
Wenn ich Jypsy allein zu Hause lasse und weggehe, passiert rein nichts. Damals spielte sie noch mit ihren Kartonschachteln, Holzkisten usw. und wartete zufrieden auf meine Rückkehr, auch wenn ich eine bis zwei Stunden wegblieb. Ich sagte ihr immer vor dem Weggehen, dass ich gleich wiederkomme, und dies mache ich bis heute so. Es ist für sie beruhigend und klar. Sie erwartet mein Zurückkommen, wofür ich sie immer mit einem Leckerbissen für ihre Geduld und ihr vortreffliches Benehmen belohne. Als ich ihr kein Vertrauen schenkte und sie in den Wintergarten sperrte, begann sie zu rackern, jedoch nicht an Spielsachen, sondern an allem, was herumstand, lag oder für sie erreichbar war. Sie macht aus Frust, Angst oder Enttäuschung „Terror“, und so bin ich überzeugt, dass wenn alles stets so bleibt wie zuvor, also der Hund sich frei in der Wohnung wähnt, er sich weiterhin so verhält, als wäre ich vor Ort. Sperrt man einen Hund bewusst weg, ist dies für den einen oder anderen eben frustrierend. Voraussetzung ist auch, dass wir ihn langsam an das Alleinsein gewöhnt haben, er etwas zum Spielen hat und nichts passiert, was ihn ernsthaft irritieren könnte. Aus diesem Grunde erklang auch früher stets leise Musik aus dem Radio.
Mit der Schleppleine ging alles gut. Ich konnte Jypsy rufen und sie kam über lange Zeit sofort zurück. Nun haben die Leute Spaß daran gefunden, sich mit ihr anzufreunden. Sie ist gut sozialisiert und auch freundlich, und gerade deshalb geben sie ihr gern einen schmackhaften Bissen. Dies hat nun zur Folge, dass mein Rufen immer weniger Wirkung zeigt, und sie auch bei anderen Gelegenheiten nicht mehr gut hören will. So habe ich sie einmal, als sie nicht sofort zurückkam, am Kragen geschüttelt und gesagt: „Umkehren habe ich gesagt!“ Dies war echt katastrophal, zumal sie mir nun speziell an diesem Ort auf meinen Rückruf und das leichte Schütteln zu flüchten begann. Nun ist das Erlebnis beinahe vergessen, aber ein zweites Mal dasselbe tun, wäre schlecht und würde den Vertrauensbruch verstärken. Da Jypsy dieses Erlebnis mit der Örtlichkeit verband, übte ich das Abrufen an diesem Ort täglich und versuchte ihre Misstrauensreaktion zu korrigieren, und dies gelang erst wieder nach zweiwöchigem Üben, und so sieht man, Fehler sind schnell gemacht, aber zum Ausbügeln von solchem Fehlverhalten unsererseits braucht es manchmal sogar bis zu zwei Wochen!
Wenn ich sie rufe und sie kommt nicht, drehe ich um und gehe einfach weg, bis sie angerannt kommt. Dann rufe ich sie nochmals aus kurzer Distanz und belohne sie dafür, sofern sie nun gleich kommt. Danach marschiere ich wieder zurück und nehme sie zwischendurch vermehrt an die Rollleine. Hier gilt einfach: „Wehret den Anfängen!“, denn baut sich der Ungehorsam auf, wird ein Korrigieren, je älter der Hund ist, immer schwieriger. Ist sie an gestreckter Leine, rufe ich sie zurück, und kommt sie gleich, dann lobe und belohne ich sie. Hört sie nicht hin, erinnere ich sie an meinen Befehl durch sehr leichtes Ruckeln, um sie beim Eintreffen freudig zu belohnen. Diese Arbeit ist eigentlich mühsam, doch es lohnt jede Anstrengung, denn eines Tages geht so was in Fleisch und Blut über. Später wird es dann sowieso noch schwieriger, sobald „Wild“ ins Spiel kommt. Dann ist der Hundeführer zusätzlich gefordert, schnell zu reagieren, indem er den Hund und die Umgebung genau beobachtet und bei geringsten Anzeichen, wie Ohren und Blick in Richtung Wald gewendet, vielleicht noch eine Pfote anhebend, den Hund sofort durch ein Kommando störend zurückruft. Dann aber gleich an die Leine!
Am Montag, den 29.03.04 musste ich mein Auto in den Service bringen, nahm dabei vieles heraus, um das Auto auch reinigen zu lassen. Die alten Bring-Hölzer trug ich in die Wohnung, zeigte ihr eines, Jypsy nahm dies korrekt in ihren Fang, hielt es ruhig zwischen den Zähnchen, ich stand blitzartig auf, um eine Belohnung zu holen, sie rannte durch die Stube, und wie ich dann „Bring“ rief, brachte sie es mir! Ich war so überrascht, dass ich das Experiment wiederholte. Für Jypsy war dies alles so selbstverständlich, dass ich kaum wusste, wie meiner Freude Ausdruck zu verleihen. Natürlich wiederhole ich dies nicht alle Tage. Sie kann es einfach, und ich will damit nichts tun, was ihr nicht auch Spaß macht. So werde ich zur gegebenen Zeit diese Übung mit „Halten“ und Belohnen mit weiter verlängerten Übungsabläufen noch besser zu üben versuchen. Ich denke, dass dies das schönste Geschenk war, das sie zu ihrem sechsten Lebensmonat mir machen konnte. Hier muss ich im Nachhinein noch einfügen, dass das ruhige Halten des Holzes auf dem Übungsplatz noch eine weitere Dimension hat, denn dort begann das „Zurück- und Ausweichen“, was es durch Konsequenz zu überwinden galt. Dies zeigt, dass der Hund oft versucht, sich durchzusetzen, was längerfristig zu einem Bindungsverlust führen würde. So wird es nun wichtig, dass ab jetzt zwischen dem sechsten und siebten Monat die faire Konsequenz und mein Durchsetzungsvermögen die Bindung festigt, und deshalb für uns die Konsequenz zur absoluten Voraussetzung für ein erfolgreiches Weiterarbeiten wird.
Vor einiger Zeit, als sie meinen Hausschuh mit sich herumtrug, sagte ich ganz ruhig, „Nein, mein Kleines. Den darfst Du nicht haben!“

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