Verhaltensanalyse ist die systematische, tierärztlich und verhaltenswissenschaftlich fundierte Abklärung von Problem- oder Zielverhalten. Sie kombiniert Anamnese, medizinische Abklärung, Funktionsdiagnostik (ABC: Antezedens–Behavior–Consequence), Risikobeurteilung, Trainings-/Therapieplan und Verlaufsmessung. In Deutschland, Österreich und der Schweiz kommen dabei zusätzlich länderspezifische rechtliche und qualifikatorische Anforderungen ins Spiel. Dieses Handbuch führt Dich Schritt für Schritt durch den D-A-CH-Kontext – evidenzbasiert, tierwohlorientiert und rechtssicher.
Was genau wird in einer Verhaltensanalyse gemacht?
Am Anfang steht eine präzise Anamnese (Lebenslauf, Auslöser, Häufigkeit, Latenz, Dauer, Intensität, bisherige Massnahmen) und eine Baseline mit Videobeispielen aus dem Alltag. Anschliessend erfolgt die medizinische Abklärung (Schmerz, neurologische, hormonelle oder gastrointestinale Faktoren), denn körperliche Ursachen beeinflussen Verhalten stark; aktuelle Leitlinien empfehlen strukturierte Schmerz-Screenings und validierte Schmerzscores. Parallel werden mit einer ABC-Analyse die auslösenden Bedingungen (A), das beobachtbare Verhalten (B) und die Konsequenzen (C) erfasst – so lässt sich die Verhaltensfunktion ableiten und zielgenau behandeln. Aus all dem entsteht ein funktionsbasierter Interventionsplan (Management, Desensibilisierung & Gegenkonditionierung, differenzielle Verstärkung erwünschter Alternativen, ggf. medizinische/psychopharmakologische Unterstützung), flankiert von klaren Metriken für das Monitoring (Trefferquote, Latenz, Dauer, Rate, Erregung/Ablenkung).
Worauf achtet man fachlich?
Priorität hat die Sicherheit (Management, Distanz, ggf. Maulkorb – tierschutzkonform angepasst und positiv aufgebaut). Dann folgen tierärztliche Abklärung, FUNKTIONSdiagnose statt Etiketten (Warum „lohnt“ sich das Verhalten?) und belohnungsbasiertes Vorgehen mit hoher Verstärkungsqualität. Fachgesellschaften betonen Wahlmöglichkeiten, Stressreduktion, kleinschrittige Kriterien und das konsequente Vermeiden aversiver Hilfsmittel. Für die Dokumentation genügen wenige robuste Kennzahlen (Treffer-%, Latenz, Dauer), ergänzt um kurze Notizen zu Rahmenbedingungen und Verstärkern.
Recht & Qualifikation in D-A-CH: Was gilt wo?
Deutschland: Wer gewerbsmässig für Dritte Hunde ausbildet oder Halter:innen anleitet, braucht eine behördliche Erlaubnis nach § 11 TierSchG. Für die Auswahl von Hilfsmitteln gilt: Elektroreizgeräte (Tele-/E-Halsbänder) sind in der Hundeerziehung nach § 3 Nr. 11 TierSchG verboten; das Bundesverwaltungsgericht bestätigte 2006 ein generelles Verwendungsverbot (auch bei Niedrigstufen). Einige Behördenmerkblätter konkretisieren Verfahren und Nachweise für § 11.
Österreich: Das Bundes-Tierschutzgesetz verbietet elektrisierende Dressurgeräte; auch Besitz/Inverkehrbringen sind untersagt. Zusätzlich gibt es das staatliche Gütesiegel „tierschutzqualifizierte:r Hundetrainer:in“ (Koordinierungsstelle am Messerli Forschungsinstitut, Vetmeduni Wien) als Orientierung für Halter:innen. 2024/25 wurden ausserdem Vorgaben zur Hundeausbildung (z. B. Verbot bestimmter Schutzhundeausbildungen) novelliert.
Schweiz: Seit 2017 gibt es keine bundesweite Kurs-Pflicht mehr; Kantone dürfen aber Kurse vorschreiben (z. B. revidierte Regelungen im Kanton Zürich seit 1. Juni 2025). Die Tierschutzverordnung verbietet bei Hunden u. a. Geräte, die elektrisieren, sehr unangenehme akustische Signale aussenden oder mittels chemischer Stoffe wirken (Art. 76 Abs. 2 TSchV); bewilligungspflichtige Ausnahmen sind streng reglementiert. Das BLV bündelt zudem wichtige Halter:innen-Rechte und -Pflichten („Hunde im Recht“).
Der Ablauf in der Praxis – von der Anfrage bis zur Nachsorge
Intake & Ziele klären: Anlass, Erwartungen, Risiken (Bissvorfälle, Kinderhaushalt), Umfeld, Management. Medizinischer Check: Schmerz-/Gesundheitsscreening nach aktuellen internationalen Leitlinien; bei Bedarf Labordiagnostik, Bildgebung, Zahn-/Orthopädie, Dermatologie. ABC-Analyse & Funktionsdiagnose: Auslöser, Verhalten, Konsequenzen; Motivating Operations (Hunger, Schlaf, Zyklus, Schmerz). Plan: Management sofort (Sicherheit/Stressreduktion), anschliessend Desensibilisierung & Gegenkonditionierung, differenzielle Verstärkung funktionaler Alternativen, Signalkontrolle, Umfeldanpassung; ggf. Pharmakotherapie/Schmerzmanagement in enger TA-Kooperation. Monitoring: kurze Mikro-Sessions, klare Kriterien, Spacing statt Marathon-Training; regelmässige Re-Evaluierung mit den definierten Kennzahlen.
Messbar trainieren: Daten, die wirklich zählen
Dokumentiere pro Session die Anzahl Durchgänge, Treffer in %, Latenz (s), Dauer (s) und die Verstärkungsrate (Belohnungen/Minute); ergänze Ablenkungs- und Erregungslevel (0–5) und kurze Notizen zu Verstärkern und Setting Events. So erkennst Du, ob ein Kriterium zu hoch ist oder ein Verstärker nicht trägt. Studien zu Trainingsdosen zeigen einen Spacing-Effekt: selteneres, gut verteiltes Training kann die Akquisition begünstigen, während langfristige Stabilität bei sauberem Aufbau in allen Gruppen erreichbar ist – ein starkes Argument gegen „Drill“.
Typische Inhalte eines Interventionsplans
Gute Pläne enthalten präzise definierte Zielverhalten, stufenweise Kriterien, einen Verstärker-Fahrplan (Art, Menge, Timing/Marker), klare Managementmassnahmen, Hausaufgaben in Mikro-Dosen, Generalisierung über Orte/Distanzen/Reize sowie ethische Grenzen (keine aversiven Hilfsmittel; gesetzliche Verbote beachten). Für Sicherheitsmassnahmen wie Maulkörbe gilt: nur tierschutzkonforme Modelle, die Hecheln/Trinken/Futteraufnahme zulassen, und stets positiv antrainieren; D-A-CH-Fachstellen geben hierzu praxisnahe Standards heraus.
Wissenschaftliche Basis: warum Funktionsdiagnostik wirkt
Funktionale Analysen identifizieren, welche Konsequenzen Verhalten aufrechterhalten; so kann man diese gezielt ersetzen und erwünschtes Verhalten belohnen. Experimental- und Feldstudien belegen die Wirksamkeit funktionsbasierter Strategien (z. B. differenzielle Verstärkung, Gegenkonditionierung) auch im Hundekontext. Gleichzeitig fordern Fachgremien (ECAWBM/EBVS, IAABC, AAHA/WSAVA) integrierte, tierärztlich begleitete Ansätze, die Wohlergehen, Ethik und Messbarkeit vereinen.
Qualitätskriterien bei der Auswahl von Profis (D-A-CH)
In Deutschland ist die § 11-Erlaubnis Pflicht, wenn für Dritte ausgebildet oder Halter:innen angeleitet werden; erfrage sie aktiv. In Österreich dient das Gütesiegel „tierschutzqualifizierte:r Hundetrainer:in“ als behördlich koordinierte Orientierung. In der Schweiz existiert keine bundeseinheitliche Trainer-Zulassung; informiere Dich kantonal zu Kurs-Pflichten und prüfe fachliche Standards (belohnungsbasiert, schriftliche Pläne, Messkonzept, TA-Kooperation). Unabhängig vom Land gilt: Transparenz, schriftliche Funktionshypothesen, klare Kriterien, Monitoring und Tierwohl stehen an erster Stelle.
Rechtlich heikle Hilfsmittel – was ist tabu?
In Deutschland ist die Verwendung von Elektroreizgeräten zur Hundeerziehung verboten; das BVerwG hat 2006 ein generelles Verbot bestätigt. Österreich verbietet elektrisierende Dressurgeräte (inkl. Inverkehrbringen/Besitz). In der Schweiz verbietet Art. 76 Abs. 2 TSchV u. a. elektrisierende Geräte sowie chemisch wirkende oder für Hunde sehr unangenehme akustische Geräte; Ausnahmen sind eng begrenzt und bewilligungspflichtig. Diese Rahmenbedingungen gehören immer in die Verhaltensanalyse – als klare Leitplanken der Mittelwahl.
FAQ
Wie lange dauert eine Verhaltensanalyse? Die Erstanalyse umfasst in der Regel 60–120 Minuten plus Datensichtung/Diagnostik; der Gesamtprozess dauert je nach Thema Wochen bis Monate. Kurze, verteilte Trainingsblöcke mit regelmässiger Re-Evaluation sind effizienter als lange Drills.
Wer darf Verhalten therapieren? Medizinische Diagnostik/Therapie gehört zur Tierarztpraxis; komplexe Fälle profitieren von Überweisung an verhaltenstierärztliche Spezialist:innen (ECAWBM). Training/Coaching übernehmen qualifizierte Trainer:innen – im Rahmen der Länderregeln.
Wann sind Medikamente sinnvoll? Bei moderatem/schwerem Leidensdruck, hohem Risiko, Generalisationsproblemen oder klaren medizinischen Komorbiditäten kann eine kombinierte, tierärztlich überwachte Pharmako- und Verhaltenstherapie sinnvoll sein; Leitlinien betonen multimodales Schmerz- und Stressmanagement.
Welche Daten soll ich mitschreiben? Pro Session Treffer-%, Latenz, Dauer, Ablenkungs-/Erregungslevel (0–5), Verstärker, Setting Events; kurze Notiz zum „Nächsten Schritt“. Das reicht, um Entscheidungen datenbasiert zu treffen.
Hinweis: Bei Verdacht auf Schmerzen, neurologische Auffälligkeiten oder eskalierende Aggressionen bitte immer tierärztlich abklären lassen – idealerweise mit verhaltenstierärztlicher Expertise. Das schützt Hund, Menschen und Deinen Trainingsfortschritt.



